Der Fachtag 2017 in Mainz

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„Inklusive Wohnmöglichkeiten für Menschen mit hohem Unter- stützungsbedarf fallen nicht vom Himmel“

Bericht über den Fachtag am 20.10.2017 in Mainz

Zur diesjährigen Fachtagung des Landesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte Rheinland-Pfalz e.V. fand sich ein interessiertes Fachpublikum ein, hierunter betroffene Eltern, Menschen mit Behinderung, Einrichtungsvertreter aus der Behindertenhilfe, beteiligte Kostenträger aber auch Architekten – allesamt Menschen, die mit dem Wohnen von Menschen mit Behinderung aus sehr unterschiedlicher Perspektive befasst sind.

Der Vorstand des Fachverbandes beschrieb in seiner Begrüßung die komplexe Situation, in der sich die Behindertenhilfe aktuell befindet. Einerseits hat sich die Bundesrepublik Deutschland durch die Ratifizierung der entsprechenden UN-Resolution verpflichtet den Menschen mit Behinderung eine uneingeschränkte, inklusive Teilhabe zu bieten, was bei vielen Betroffenen Hoffnung genährt hat und andererseits sieht man sich mit dem neuen Bundesteilhabegesetz (BTHG) konfrontiert, mit dem ein massiver Paradigmenwechsel für die Behindertenhilfe angekündigt ist aber gleichzeitig von Fachleuten von einem Kostendämpfungsgesetz gesprochen wird.
Vor Jahresfrist hatte der Fachverband bereits die Auswirkungen der Inklusion in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Kindertagesstätten, Schulen und dem Arbeitsmarkt in den Blick genommen, dabei hoffnungsvolle Entwicklungen festgestellt aber auch das Problem erkannt, dass die Effekte von inklusiven Maßnahmen anscheinend bei Menschen mit Körperbehinderung und leichten kognitiven Einschränkungen durchaus positiv zu sehen sind andererseits aber bei Menschen mit Mehrfachbehinderung, insbesondere bei einer schweren geistigen Behinderung, doch trotz aller inklusiver Bekenntnisse eine massive Ausgrenzung stattfindet, denn mittlerweile wird bereits von einer sog. „Restmenge“ gesprochen, die nicht in KITA, Schule oder Arbeitsmarkt inklusiv leben können.

Mit der Fachtagung am 20.10.2017 in Mainz sollte nun das Wohnen von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf eingehend betrachtet werden, denn in einer inklusiven Gesellschaft sollen künftig auch Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung nicht mehr in Einrichtungen – früher Heime – leben sondern Wahlmöglichkeiten haben, also auch inmitten der Gesellschaft z.B. in Wohngemeinschaften, Paarwohnen oder alleine wohnen können.

Dr. Alfred Marmann und Matthias Rösch
Gute Laune auf dem Podium (li.: Dr. Alfred Marmann, re.: Matthias Rösch)

Erster Redner war Matthias Rösch, der Landesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung in Rheinland-Pfalz. Rösch, selbst von Behinderung betroffen und langjährig in der Behindertenhilfe tätig, konnte die Entwicklungslinien dieses Fachgebiets im Überblick darlegen, dabei gleichzeitig die gewollte inklusive Veränderung der Gesellschaft in einen längeren zeitlichen Bezug setzen. Er sieht Rheinland-Pfalz auf einem hoffnungsvollen Weg, denn es sei bereits gelungen mit einer Vielzahl von persönlichen Budgets individuelle Wohnlösungen in etlichen Projekten zu verwirklichen. Er wünscht sich allerdings noch mehr positive Initiativen, die dem Menschen mit Behinderung ein adäquates Wohnen inmitten der Gesellschaft ermöglichen. Er erlebt immer wieder, dass Selbstbestimmung und Selbstständigkeit verwechselt werden und dem Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben abgesprochen wird, weil er nicht selbstständig leben kann. Dies empfindet er als eine völlig falsche Sichtweise und deshalb setzt er sich intensiv für inklusive Wohnmöglichkeiten, auch für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf ein. Im Hinblick auf das BTHG und die damit anstehenden Veränderungen sei das Sozialministerium mit aktiven Gestaltungsprozessen befasst. Als Beispiel nannte er die zügige Festlegung, dass künftig das Land weiterhin für die konzeptionellen Fragen der Behindertenhilfe zuständig sei und die Kommunen vor Ort die konkrete Fallarbeit übernehmen; ein neuer Anlauf für eine landesweite Rahmenvereinbarung stehe an.

Der Moderator der Fachtagung Dr. Alfred Marmann, Vorstandsmitglied im Landesverband, äußerte die Hoffnung, dass es dem Land künftig zunehmend gelingen möge die bereits vorliegende Diskrepanz zwischen inhaltlichen Positionen des Landes und den Ausführungen der Kostenträger vor Ort, zu verringern. Er sagte im Namen seines Verbandes eine weiterhin konstruktive Zusammenarbeit mit Matthias Rösch und seiner Dienststelle zu.

Mit Gila Schindler hatte der Landesverband für ein Grundsatzreferat eine renommierte Fachanwältin für das Sozialrecht gewinnen können, die ihrer Zuhörerschaft allgemeine Grundzüge des Sozialleistungsrecht für Menschen mit Behinderung erklärte aber auch eine Fülle von gesetzlichen Neuerungen präsentierte, die sich aus dem neuen Bundesteilhabegesetz kurz- und mittelfristig ergeben. Von grundlegender Bedeutung ist für die Rechtanwältin der neue Behindertenbegriff, der künftig der Rechtsprechung zugrunde liegen muss:

Definition als Übersetzung des amerikanischen „Independent Living“:

  • „Selbstbestimmt Leben heißt, Kontrolle über das eigene Leben zu haben, basierend auf der Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Alternativen, die die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer bei der Bewältigung des Alltags minimieren.
  • Das schließt das Recht ein, seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu können, an dem öffentlichen Leben in der Gemeinde teilzuhaben, verschiedenste soziale Rollen wahrzunehmen und Entscheidungen selbst fällen zu können, ohne dabei in die psychologische oder körperliche Abhängigkeit anderer zu geraten.
  • “Selbstbestimmung ist ein relatives Konzept, das jeder persönlich für sich bestimmen muss.“

Sie stellte u.a. klar, dass die öffentliche Hand keine gesetzlich einforderbare Verpflichtung habe, eine konkrete Bedarfsplanung für Wohnangebote die Menschen mit Behinderung betreffend, vorzunehmen. Andererseits gebe es jedoch die Pflicht für die öffentlichen Träger im Rahmen einer umfassenden Gewährleistungspflicht Vorsorge zu treffen, damit im Bedarfsfalle adäquate Unterstützungsangebote gemacht werden können.

Rechtanwältin Gila Schindler
Rechtanwältin Gila Schindler interessierte ihre Zuhörerschaft mit lebendigen Kommentaren für eine eigentlich trockene Materie

Wenn Betroffene bzw. deren gesetzliche Vertreter Unterstützungsleistungen haben möchten, so müssen sie diese künftig beantragen, es genügt nicht mehr, wenn ein Kostenträger Kenntnis des Bedarfs hat. Es erfolgt eine Bedarfserhebung durch die Kostenträger. Künftig wird hierzu ein icf-basiertes Verfahren Grundlage sein. Dieses Instrument, das sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (icf) orientiert, ist allerdings nicht bundeseinheitlich normiert sondern wird von jedem Bundesland selbst verabschiedet. Gila Schindler führte weiter aus: „Im Licht der Personenzentrierung ist der Bedarf nicht mehr nur als objektiver Tatbestand, sondern als Begriff zu verstehen, der sowohl die Behinderung, als auch die subjektiven Ziele, Wünsche und Einstellungen der Berechtigten umfasst.“

Sehr komplex wurde es, als Gila Schindler ausführte, wie aus Wünschen eines Menschen mit Behinderung Bedürfnisse zu formulieren sind und hieraus wiederum Bedarfe ausgewiesen werden. Wichtig dabei war zu betonen, dass die Wünsche des Antragstellers wesentlicher Teil der künftigen Bedarfsplanungen werden müssen. Die Frage der Angemessenheit ist in diesem Zusammenhang ausschlaggebend für die Bewilligung von Leistungen.

Gila Schindler glaubt, dass es vermehrt zu rechtlichen Auseinandersetzungen kommen wird. Auch bei der Frage der Wohnform unter dem Gesichtspunkt der Wunsch- und Wahlfreiheit erlebt sie in ihrer Praxis bereits jetzt eine Vielfalt von Verfahren, in denen Anspruchsberechtigte versuchen ihre Bedarfe durchzusetzen – Tendenz steigend. Juristen werden zunehmend zu den eigentlichen Entscheidern in der Behindertenhilfe. Schindler empfiehlt die Abwendung vom Persönlichen Budget zur Sachleistung, um damit die individuelle Rechtsposition besser durchsetzen zu können.

Mit der letzten Feststellung kam Rechtsanwältin Schindler zu einer Kernempfehlung für angedachte Wohnprojekte: Eine glasklare Leistungsbeschreibung sollte vorliegen, mit der der Abschluss einer Leistungsvereinbarung angestrebt werden kann, denn man muss damit rechnen die eigenen Interessen bei einer Schiedsstelle durchsetzen zu müssen.

Ein betroffener Vater aus dem Teilnehmerkreis brachte für sich und seine Ehefrau deren Ratlosigkeit zum Ausdruck: „Wir betreuen unsere zwei schwerstmehrfachbehinderten erwachsenen Söhne noch zu Hause. Wir wünschen uns für diese eine kleine Wohngemeinschaft als Lebensmittelpunkt. Wir sind ohnehin bereits ratlos und uns hat das Referat zu den rechtlichen Aspekten erschlagen. Wir haben gar nicht mehr die Kraft solche Wege zu gehen. Wenn wir die Begriffe Leistungsvereinbarung hören und schiedsstellenfähiges Vorgehen, dann müssen wir jetzt schon kapitulieren.“

Was tun, wenn es zwar eine UN-Rechts-Konvention gibt, die von Deutschland verbindlich unterzeichnet wurde, in der Menschen mit Behinderung ihre volle Teilhabe zugesprochen wird, die Realität aber weiterhin weit hinter diesem Anspruch hinterher hinkt?

Mit dem Vortrag von Frau Schindler wurden zwar Möglichkeiten und Wege aufgezeigt inklusive Wohnmöglichkeiten aufzubauen, gleichzeitig konnte ihre Zuhörerschaft verinnerlichen welche Hürden genommen werden müssen, wenn Kostenträger nicht mitziehen. Insbesondere etliche Passagen aus dem neuen BTHG konnte sie aufzeigen, die bereits heute eine neue Flut von Gerichtsverfahren befürchten lassen.

Da sind betroffene Eltern ohne juristische Unterstützung kaum in der Lage eine gewünschte Wohnmöglichkeit für den erwachsenen Sohn, die erwachsene Tochter aufzubauen.

Nach dem Referat der Rechtsanwältin stellten sich insgesamt fünf Projekte vor, die allesamt inklusive Wohnmöglichkeiten zum Ziel haben.

 

Der Landesverband kommentiert die Inhalte des Fachtages:

Die fünf vorgestellten Projekte zeigten eine große Bandbreite auf, die inzwischen zur Realität in Rheinland-Pfalz gehört. Bei der Initiative „Wir in Selters“, die noch in Vorbereitungen zur Gründung eines Wohnprojekts feststeckt, wird offenbar, dass die administrativen Begleitumstände keineswegs förderlich sind. Wie soll eine vielfältige, bunte, inklusive Landschaft entstehen, wenn ernst zu nehmenden Initiativen keine Brücken gebaut bekommen sondern ihnen Steine in den Weg gelegt werden?

Privaten geht auf dem langen Weg zur Gründung eines Wohnprojekts eher die Luft aus, als Organisationen, wie z.B. Bethesda Landau oder der Förder- und Wohnstätte Kettig, die ihre jeweiligen Projekte nur durch Träger realisieren können, die bereit sind namhafte Starthilfen und Zuschüsse zu gewähren.

Mit vollkommenem Unverständnis reagieren wir als Landesverband, wenn wir von dem Projekt IGLU aus Ludwigshafen hören, dass dieses Projekt von den Behörden in Mainz Mainz hochgelobt wird und gleichzeitig eine Leistungsvereinbarung mit dem regionalen Kostenträger seit drei Jahren in Verhandlungen feststeckt.
Es war zwar am Fachtag spannend zu erleben, welche unterschiedlichen Projekte sich präsentiert haben. Gleichzeitig war es sehr ernüchternd zu hören, dass all diesen Initiativen in der Tat gemeinsam ist, was der Titel des Fachtages bereits vorweggenommen hat: Inklusive Wohnmöglichkeiten…fallen nicht vom Himmel. Nein, man muss sie sich hart erarbeiten.

Auf Anregung aus der Teilnehmerrunde hin wird der Landesverband sich mit der Erstellung eines „Starterpaketes“ beschäftigen, einer Art Arbeitshilfe für betroffene Eltern aber auch für Einrichtungen denkbar, die eine inklusive Wohnmöglichkeit gründen möchten. Eigentlich sollten Gründungswillige solche konkreten Hilfen von den entsprechenden Behörden, auch von den Verwaltungen der Kreise und Städte offensiv erhalten, denn letztlich sprechen heute alle Beteiligten in wohlfeilen Worten über den neuen Leitstern Inklusion. Den Worten müssten allerdings konkrete Taten folgen!

Betroffene Eltern und Gestaltungswillige aus etablierten Wohneinrichtungen konnten bei der Fachtagung fundierte Informationen gewinnen, auch hoffnungsvolle Initiativen kennen lernen. Der Landesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte wird diese Thematik weiterhin im Blick behalten. Dies erscheint notwendig,

  • weil der Bedarf an Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Mehrfachbehinderung weiterhin steigen wird, da es auf absehbare Zeit nicht zu einem Fließgleichgewicht zwischen freien Plätzen und der Nachfrage kommt, denn Menschen mit Behinderung haben eine längere Lebenserwartung als früher einmal angenommen,
  • weil noch viele ältere Beschäftigte in Werkstätten und Besucher von Tagesförderstätten bei ihren Eltern wohnen und kurz- bis mittelfristig Wohnmöglichkeiten benötigen,
  • und – so die Erkenntnis des Fachtages – weil inklusive Wohnmöglichkeiten für Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf halt nicht vom Himmel fallen!

Die PDF-Datei des Rundbriefs 2017 steht Ihnen hier zum Donwload zur Verfügung. Diese enthält als weiterführende Information die Folien zum Vortrag von Frau Schindler sowie die Informationen zu den vorgestellten Wohn-Projekten.